Rede des SPD-Parteivorsitzenden Franz Müntefering auf dem 3. Programmforum der SPD „Demokratie. Teilhabe, Zukunftschancen, Gerechtigkeit“ am 13. April 2005

Liebe Genossinnen und Genossen, Heute wollen wir in unserer öffentlichen Programmdebatte über Demokratie sprechen. Was sie uns bedeutet. Was sie ermöglicht. Wie sie funktioniert. Was sie gefährdet. Was sie stärkt. Über das Recht und die Pflicht zur Teilhabe und zur Teilnahme an der Demokratie. Über Zukunftschancen, die sich für den Einzelnen und für das Land mit der Demokratie und ihrer Entwicklung verbinden. Über Gerechtigkeit, die sich aus der demokratischen Verfassung, aus dem Rechtsstaat und dem Sozialstaat ergibt. In den vorangegangenen Foren haben wir bereits über Wohlstand für alle und Arbeit sowie über Deutschlands Rolle in Europa und in der Welt debattiert. Auf dem 4. Forum am 19. Mai 2005 geht es um den Menschen im Mittelpunkt der Politik. Heute richten wir den Blick auf unser Zusammenleben. Auf die Fragen der Organisation unserer Gesellschaft, auf den Staat. Auf seine Aufgaben und seine Grenzen. Auf die zivile Gesellschaft in diesem Staat. Demokratie ist ein Prinzip. Als Organisationsform unseres Staates ist sie aber auch ein Prozess. Sein Gelingen ist wesentlich für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Dies umso mehr, als wir als Deutschland Mitverantwortung tragen für das Gelingen Europas, genauer: für das Gelingen eines demokratischen und - das sagen wir Sozialdemokraten - eines sozialen Europa. Die deutsche Demokratie nach 1949 ist eine Erfolgsgeschichte. Nicht perfekt, aber – alles in allem und besonders vor dem Hintergrund der Zeit davor – eine gelungene Sache, auf die alle Demokratinnen und Demokraten unseres Landes stolz sein dürfen. Viele haben daran mitgewirkt. Wir Parteien. Aber längst nicht nur die Parteien. Als die Geschichte der SPD vor 142 Jahren begann, war das freie, gleiche und geheime Wahlrecht noch weit entfernt. Nach dem preußischen Drei-Klassen-Wahlrecht bestimmte damals noch die Höhe der gezahlten Steuern das Gewicht der Stimmen. Das führte zum Beispiel in Essen dazu, dass Herr Krupp bei einer Wahl genauso viel zu sagen hatte, wie alle seine Arbeiter zusammen. Dagegen hat die SPD angekämpft. Das gleiche Wahlrecht kam erst mit dem Deutschen Reich 1871 – und dann auch nur für Männer. Erst 1918, als zum ersten Mal Sozialdemokraten das Land regierten, erhielten in Deutschland Frauen das Wahlrecht. Erstmals wurden in Weimar auch Grundrechte in eine deutsche Verfassung hineingeschrieben. Sie war die freieste Verfassung der Welt. Aber sie alleine reichte nicht aus: Die erste deutsche Demokratie hatte engagierte Förderer, aber auch viele Gegner und zu viele Gleichgültige. Sie dauerte deswegen nur kurze 15 Jahre. Die Zeiten waren andere. Aber lernen kann man doch: Demokratie gelingt nicht von allein, sie ist nicht sicher vor Feinden. Sie braucht vernünftige Organisation, sie braucht vor allem Demokratinnen und Demokraten, die Demokratie wollen und die sie leben, im Staat und in der zivilen Gesellschaft. Die sie schützen und die sie durchsetzen, die ihr zu ihrem Recht verhelfen. Heute ist uns unsere Demokratie selbstverständlich. Wir haben uns an sie gewöhnt. Sie ist stabil, kein Zweifel, Demokratiefeinde haben heute in Deutschland keine Chance. Aber Demokratie braucht nicht nur Gewöhnung, sie braucht vor allem Lebendigkeit. „Mehr Demokratie wagen“, das gilt. Lebendige Demokratie wagen – erst recht. Wir sehen es voller Sympathie, wenn Freiheitsbewegungen sich gegen autoritäre Regime auflehnen. Wie in der Ukraine. Die Bilder der Orangen Revolution haben viele bei uns an die Ereignisse 1989 in der DDR erinnert, als erstmalig eine Revolution der Freiheit auf deutschem Boden erfolgreich war. Aber auch in der Demokratie überwiegen neben solchen Augenblicken der Emphase und des Triumphes die Ebenen des Alltags. Und die brauchen praktisches Engagement dauerhaft und sie brauchen Impulse. Demokratie verträgt keinen Stillstand. Gefragt ist dabei die Verantwortung jedes Einzelnen vor sich selbst und in der Gesellschaft. Eigenverantwortung und Gemeinwohl sind Grundlagen der Demokratie. Gefragt ist die Verantwortung der demokratischen Organisationen, ganz besonders der politischen, der demokratischen Parteien. Sie leben mit der Demokratie und für die Demokratie. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands sieht es als ihre herausragende Aufgabe an, das Gemeinwesen, unseren Staat, nach den Regeln der Demokratie zu gestalten und zu regieren und ihren aktiven Beitrag zu leisten für eine demokratisch bestimmte Gesellschaft. Auch das Karlsruher Programm, das wir im November dieses Jahres beschließen, wird dies verdeutlichen. Liebe Freundinnen und Freunde, als unser Grundgesetz entstand - beschlossen vom Parlamentarischen Rat am 8. Mai 1949, in Kraft getreten am 23. Mai 1949 (manche Tage haben es in sich) -, herrschte seit Jahren Not und Elend in Deutschland. Das tägliche Brot war knapp und seitdem haben Quaker-Speise und Care-Pakete aus den USA für meine Generation ein legendäres Image. Festes Schuhwerk zu haben, Holz zum Heizen, im Winter einen dicken Mantel, zu essen und zu trinken, - darauf stand das Sinnen und Streben. Mitten in diese Zeit der materiellen Not hinein war das Grundgesetz die Vision von etwas Neuem, Erstrebenswertem. Etwas, das Freiheit ermöglicht, das Recht garantiert, das Frieden sichert. Es dokumentierte Zuversicht, dass nach diesen Regeln der Demokratie ein menschenwürdiges Leben möglich ist. Mit 53 zu 12 Stimmen haben die Mitglieder des Rates damals wegweisende Postulate beschlossen wie: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Auch: Die Todesstrafe ist abgeschafft. Auch: Eigentum verpflichtet. Das alles gilt seitdem, seit 1989 im vereinten Land in ganz Deutschland. Nicht selten umkämpft in der Praxis der Ausgestaltung, aber nie prinzipiell in Frage gestellt. Trotzdem steckt unsere Demokratie in einer Phase der Bewährung und der Entwicklung. Wir sind nicht kleinmütig. Vieles in unserer Demokratie ist intakt. Aber wir idealisieren auch nicht: Es gibt Besserungsbedarf. Das Desinteresse an Wahlen, die Missachtung demokratischer Institutionen, die Politikverdrossenheit, die Diffamierung von Parteien, die Demokratieferne – dies alles hat in den letzten Jahrzehnten zugenommen. Jede Zeit hat ihre spezifischen Herausforderungen. Die Umstände verändern sich und wer gestalten will, muss diesen Veränderungen genügen. Wir wollen Deutschland erneuern und zusammenhalten. Dazu gehört auch, die Demokratie in unserem Land zu stärken und sie ideell und praktisch auf die Erfordernisse dieser Zeit und der Zukunft einzustellen. Demokratische Gesinnung bei allen und Bereitschaft zum Engagement für die Demokratie bei vielen sind dafür dringend erforderlich. 1. Demokratie braucht Staat So positiv die Idee und noch mehr der Begriff der Demokratie belegt sind, so schwer tut sich das Land mit dem Staat. Mancher putzt sich gerne die Füße an ihm ab und macht ihn zum Synonym für eine Krake und für Bonzen, für Bürokratie und für Unfähigkeit. Manche reden aus Gedankenlosigkeit abfällig über ihn, andere auch sehr gezielt. Sie fordern den schlanken Staat und wären doch nicht böse, wenn er denn verhungerte. Ja, sie legen es darauf an. Damit ist eine Scheidelinie markiert für den politischen Weg unseres Landes. Die Staatsskepsis ist ein Irrweg. Die Staatsverachtung eine Gefahr. Mit dem modernen Staat ist die Idee der Demokratie überhaupt erst möglich geworden. Er stellt die Institutionen bereit, mit denen Gesellschaften ihr Zusammenleben organisieren können. Sie gewährleisten Frieden und Sicherheit. Und sie garantieren – auf Basis der Grundrechte – Freiheit. Unser Staat ist ein Rechtsstaat. Er setzt Recht und er trägt das Recht mit seiner demokratisch legitimierten Macht. Unser Staat hat das Monopol der Gewalt, niemand sonst hat ein Recht auf Gewalt. Innerer Frieden und Rechtssicherheit sind zentrale öffentliche Güter. Unser Staat setzt auch die anderen öffentlichen Güter: Bildungswesen, Gesundheitswesen, Finanzwesen, Infrastruktur. Unser Staat ist ein Sozialstaat. Staatsziel ist die gerechte Ordnung der Beziehungen zwischen den Menschen. Der Sozialstaat ist nicht entbehrlich. Unser Staat ist ein Bundesstaat. In dieser föderalen Ordnung müssen Bund und Länder und in den Ländern die Kommunen ihre klar zugeordnete Verantwortung tragen. Staat heißt in Deutschland nicht Zentralstaat, aber die Chancengleichheit und die soziale Gerechtigkeit bleiben auf der Strecke, wenn sie nicht im Rahmen gesamtstaatlichen Handelns gesichert werden. Viele Herausforderungen lassen sich nur vernünftig lösen, wenn Bund, Länder und Gemeinden miteinander und zeitnah und mit gemeinsamer Zielsetzung daran arbeiten. Und dabei sind andere Akteure gleicherweise unentbehrlich; die Zivilgesellschaft in all ihren Formen. Das Ja zum staatlichen Handeln und zu seiner Verantwortung macht uns nicht blind für seine Grenzen und für seine Schwächen. Staat kann nicht alles alleine regeln. Manches kann er ausdrücklich nicht oder nicht gut. Das ist eine Binsenweisheit. Staat braucht Kooperationspartner. Nach außen in Form anderer Staaten. Und nach innen als Zivilgesellschaft, einschließlich Wirtschaft. Vereinbarungen und Selbstverpflichtungen wirken da oft effizienter als staatliche Verordnungen. Der Ausbildungspakt ist dafür aktuell ein gutes Beispiel. Gleichwohl, Staat ist mehr als nur ein Reparaturbetrieb. Er darf sich nicht zufrieden geben mit der Aufgabe, Fehlentwicklungen auszugleichen, den Schwächsten zu helfen. Er hat Aufgaben, die er für die Gesellschaft erledigt. Staat muss gestalten, das ist das europäische Verständnis von Sozialer Ordnung. Das ist auch das sozialdemokratische Verständnis von Staat. Genossinnen und Genossen; Wir wissen, dass es ein Spannungsverhältnis zwischen staatlicher und gesellschaftlicher Politik einerseits und den ungehemmten Regeln des Marktes andererseits gibt. Diese Spannung gilt es auszuhalten und produktiv zu nutzen. Deshalb wollen wir soziale Marktwirtschaft und nicht Marktwirtschaft pur. Im Denken und Handeln der Ökonomie ist der Primat der Ökonomie selbstverständlich, scheint staatliches Handeln oft unnötig bis kontraproduktiv. Ökonomie zielt – bestenfalls – indirekt auf das Sozialwesen Mensch, sie kalkuliert die Menschen zwar ein, aber nur in Funktionen: als Größe in der Produktion, als Verbraucher oder als Ware am Arbeitsmarkt. Diese abstrakte Logik schlägt sich konkret im Handeln von bestimmten Finanz-Unternehmen nieder: Die international forcierten Profit-Maximierungs-Strategien gefährden auf Dauer unsere Demokratie. Es liegt im eigenen Interesse von Unternehmern,- und davon gibt es noch sehr viele -, die sich für ihr Unternehmen, für ihre Arbeitnehmer und für den Standort mitverantwortlich fühlen und entsprechend handeln, diesen Entwicklungen gemeinsam mit uns entgegenzutreten. Unsere Kritik gilt der international wachsenden Macht des Kapitals und der totalen Ökonomisierung eines kurzatmigen Profit-Handelns. Denn dadurch geraten einzelne Menschen und die Zukunftsfähigkeit ganzer Unternehmen und Regionenaus dem Blick. Und die Handlungsfähigkeit der Staaten wird rücksichtslos reduziert. Im Ergebnis wird damit die Reputation des Staates bei seinen Bürgerinnen und Bürgern dramatisch belastet, weil er nicht mehr in die Lage ist, die von ihm erwartete Interessenwahrung hinreichend zu leisten. Auf diese Entwicklung müssen wir politisch reagieren: Wo der Nationalstaat an die Grenzen seiner Handlungsmöglichkeiten stößt, könnte die Europäische Union und könnten Institutionen der internationalen Völkergemeinschaft wirkungsvoll handeln. Die EU muss sich entscheiden: Will sie dem Markt unter der Überschrift Wettbewerb Schneisen schlagen, die auch die sozialstaatlichen Aufgaben der einzelnen Staaten massiv tangieren? Oder will sie, im Sinne der EU-Verfassung, gemeinsam mit den Nationalstaaten eine demokratische und soziale Union? Wir machen uns für die zweite Option stark. Das Grundsatzprogramm der SPD muss deswegen mehr als je zuvor offen sein für europäisches und internationales sozialdemokratisches Handeln. Freundinnen und Freunde, Wenn der Staat leisten soll, was wir von ihm erwarten, damit Demokratie, Rechtsstaat und Sozialstaat bestehen können, stellt sich mit Nachdruck auch die rage nach seiner finanziellen Basis. Diese Frage ist nicht populär, aber wichtig. Sie muss ehrlich beantwortet werden, denn sie tangiert die Steuer- und Abgabenpolitik erheblich. Das Prinzip der Subsidiarität und das der Eigenverantwortung haben Priorität; was vor Ort und privat geregelt werden kann, soll dort und so getan werden. Staat muss sich da entbehrlich machen, wo dies verantwortlich möglich ist. Und er muss gestärkt werden, wo es notwendig ist, zum Beispiel: - Unsere Kommunen brauchen mehr Investitionskraft, sonst wird es bergab gehen mit der Lebensqualität vor Ort. Sie müssen Freiraum haben, bei Mehreinnahmen nicht nur zu entschulden, sondern teilweise auch zu investieren im Sinne von Substanzpflege. Auch zum Nutzen der Arbeitsangebote vor Ort. - Die großen sozialen Sicherungssysteme sind nicht entbehrlich, wenn für die existentiellen Situationen des Lebens der umfassende Risikoausgleich funktionieren soll. „Einigkeit macht stark“, – das gilt auch hier und ist auch ökonomisch vernünftig. - Die Investitionen in die langfristige Zukunftsfähigkeit – voran in die Bildung – werden nicht breit genug erfolgen, wenn nicht der Staat je nach Zuständigkeit in den Kommunen, den Ländern und dem Bund diese Entscheidungen trifft. Die Bildungschancen der Sozial- und Lernschwächeren würden weiter geschmälert. Dieser staatliche Bildungsauftrag lässt ausreichend Platz für private Initiativen und Bildungseinrichtungen unterschiedlichster Art. - Grundlagenforschung bleibt nötig, wenn innovative Produkte und Dienstleistungen entwickelt werden sollen. Die Beispiele Energie, Mobilität und Medizin seien genannt. Der Staat muss Impulse setzen und kann nicht abwarten, ob im privatwirtschaftlichen Spiel der Kräfte diese Forschungen rechtzeitig angestoßen werden. Und die Umwelt muss gesichert werden. Die Kultur gefördert, die Mobilität garantiert. Und die Staatsdiener ordentlich bezahlt. Der Staat muss handlungsfähig sein. 2. Demokratie braucht Gesetz Eine Wurzel von Demokratie ist das Recht. Zusammenleben braucht verlässliche Rahmenbedingungen, die in Gesetzen festgehalten und deren Einhaltung durch Gerichte garantiert werden. Das Ziel ist Rechtssicherheit. Gleiches Recht für alle. Diese Forderung gilt. Die Gerichte in Deutschland haben sich als stark und unabhängig profiliert. Auch künftig muss die Justiz unabhängig bleiben und zugleich transparenter und effizienter werden. Wir werden die Gewaltenteilung bewahren. Dazu gehört auch, dass wir politische Entscheidungen in den Parlamenten belassen und nicht an höchstrichterliche Gremien delegieren. Das Parlament ist in der Demokratie der zentrale politische Ort der Gesetzgebung. Hier werden die Spielregeln der Gesellschaft definiert. Hier werden für Bürgerinnen und Bürger verbindliche Gesetze formuliert, beraten und verabschiedet. Bundestag und Bundesrat machen Gesetze und nehmen selten Gesetze. Der Verzicht auf Gesetze, wo sie entbehrlich sind, darf uns nicht fremd sein, sogar ein Ehrgeiz. 3. Demokratie braucht Mehrheit Demokratie heißt: Mehrheit entscheidet. Mehrheit bedeutet Macht. Sie muss durch Abstimmungen oder Wahlen demokratisch legitimiert sein und wird immer nur auf Zeit gegeben. Das gibt der Mehrheit Verantwortung und Gestaltungskraft, hoffentlich auch Bescheidenheit im Wissen, dass Mehrheit auch irren kann. Die Herrschaft der Mehrheit ist nicht unbegrenzt: Minderheitenrechte müssen geschützt sein. Die Minderheit muss stets die Möglichkeit haben, selbst zur Mehrheit zu werden. Sie darf nicht diskriminiert sein. Minderheit kann Fairness erwarten, Mehrheit aber auch. Die Art und Weise, wie der Kampf um die Mehrheit in der Demokratie ausgetragen wird, unterliegt Prinzipien der Demokratie. Auch hier heiligt nicht der Zweck die Mittel. Und auch in unseren Tagen liegt in dieser Wahrheit ein Risiko der Demokratie. Gesellschaftliche Macht gibt es auch außerhalb der durch Wahlen legitimierten Mehrheiten, ein Beispiel sind die Medien. Sie können der Demokratie dienlich sein oder auch nicht. Das Gelingen der Demokratie ist in hohem Maße abhängig vom Wissen, der Orientierung, der Urteilsfähigkeit und der demokratischen Integrität der Bevölkerung. Das müssen die Medien bedenken. 4. Demokratie braucht Aufklärung Meine sehr geehrten Damen und Herren, dass Demokratie ist, kann man nicht einfach entscheiden. Zu Demokratie muss man fähig sein. Die Grundlagen dafür müssen gesellschaftlich und politisch gelegt werden – durch Bildung und Erziehung. Emanzipation ist das Stichwort, das am Beginn unserer politischen Bewegung stand und das auch heute für die ganze Gesellschaft gilt. Unser Bildungssystem muss das Wissen und die Kompetenzen vermitteln, die Staatsbürger brauchen: Bescheid wissen, informiert sein, abwägen können. Damit meine ich nicht nur den Staatsaufbau oder Details wie den Unterschied zwischen Erststimme und Zweitstimme bei der Bundestagswahl. Damit meine ich eine umfassende Allgemeinbildung, die Kompetenz sich zu informieren und die Fähigkeit zum konstruktiven Diskutieren und Streiten, - Dialogfähigkeit und Kompromissfähigkeit. Emanzipation ist die Grundlage von Demokratie. Und sie ist Kern sozialdemokratischer Politik. Eigenverantwortung lernen – das ist ein wichtiges, das erste Ziel. Das ist das Urmotiv in der sozialdemokratischen Idee: Die Menschen begegnen sich in gleicher Augenhöhe. Sie sind aufgeklärt. Wir wollen eine Bildung und eine Erziehung, die zu Freiheit und Verantwortung heranbilden. Vorne an steht die Verantwortung der Eltern. Aber es geht auch nicht ohne ein Bildungssystem, das nicht nur fit macht für den Arbeitsmarkt, sondern das die Würde jedes einzelnen Menschen im Blick hat. Das demokratisch ist und zur Demokratie erzieht. Deshalb muss Bildung allen offen stehen. Das ist unser Verständnis von sozialer Gerechtigkeit und von Zukunftschancen. Wir wollen allen in der Gesellschaft die Chance geben, ihre Potenziale zu nutzen. Unabhängig vom Portemonnaie der Eltern. Die Startvoraussetzungen müssen für alle gleich sein. Wir helfen denen, die bei der Geburt nicht in der ersten Reihe stehen, damit sie beim Start in die Schule vorne mit dabei sind. Das gilt für Krippenplätze, Kitas, Ganztagsschulen, längeres gemeinsames Lernen, Sprachkompetenz. Soziale Barrieren müssen in der Schule abgebaut werden und dürfen nicht höher werden. Bildung ist ein sozialdemokratisches Thema. Die Diskussion über unser Grundsatzprogramm gibt uns die Chance, das wieder zu verdeutlichen. Liebe Genossinnen und Genossen, Wer Aufklärung will, muss eine Kultur der Aufklärung schaffen und erhalten; Kultur in der Vielfalt ihrer Formen. In der Kunst, aber – beispielsweise – auch in der Gestaltung der Städte, als Wohnkultur, in der Mode, in den Umgangsformen. Tradition und Moderne berühren sich in der Kultur. Kultur - Kunst vorne an – ist Experimentierfeld, ist kreativer Ort, ist Avantgarde, ist aber auch Ausdruck zeitloser Wahrheiten. Gute Kultur ist mehr als Konsum, Kultur bewegt, klärt auf. Literatur und Musik, Malerei und bildende Künste, Theater und Film sind nicht von vornherein – zu oft nicht – aufklärerisch, aber sie können es sein. Dazu müssen sie die Chance haben. Gefördert, aber nicht bevormundet vom Staat und der ganzen Gesellschaft. Frei. Liebe Freunde, Aufklärung setzt in dieser Gesellschaft auch Medienkompetenz voraus, die Fähigkeit, die Flut von Informationen und Meinungen zu gewichten und zu ordnen und daraus eine eigene Position zu entwickeln. Dabei hilft Medienvielfalt (nicht -beliebigkeit), also freie, qualifizierte Medien, die Demokratie stärken und nicht mit dem Frust an Demokratie spielen, um mehr Auflage oder Quote zu machen. Öffentlichkeit ist in Zeiten der Aufklärung entstanden. Es ist gemeinsame Aufgabe aller, Öffentlichkeit auch weiterhin als einen Ort der Aufklärung zu gestalten. 5. Demokratie braucht Teilhabe und Teilnahme Bildung gibt jeder Bürgerin und jedem Bürger den Schlüssel zur Teilhabe in die Hand. Das ist der wichtige erste Schritt. Der zweite Schritt ist, alle stark genug zu machen, den Schlüssel auch zu benutzen. Wissen und Handeln, Chancengleichheit und Verteilungsgerechtigkeit – jeweils beides ist wichtig für eine soziale Demokratie, wie wir sie wollen. Und wer soziale Demokratie will, der muss bereit sein, in ihre Fundamente zu investieren. Neben Bildung bedeutet das auch Soziale Sicherheit, neben Aufklärung auch Engagement für die Sache. Bei der sozialen Sicherheit geht es uns dabei nicht um Almosen. Uns geht es um klar definierte und einklagbare Pflichten und Rechte. Um Leistungsansprüche auf der Grundlage von eigenen Leistungen. Um eine Grundversorgung, die garantiert, dass jeder in unserem Land unter menschenwürdigen Umständen leben kann. Um Solidar-Systeme, die jeden existentiell und hinreichend absichern. Wir wollen, dass Menschen für Menschen da sind. Gesunde für Kranke, Starke für Schwache, Generationen für Generationen. Das ist das Grundprinzip unserer sozialen Sicherungssysteme. Der eine steht für den anderen ein. Diesen Zusammenhalt wollen wir bewahren. Die deutschen Sozialsysteme sind gelebte Solidarität. Im Kern unverzichtbar, aber von den Zeitläufen abhängig. Nur wenn sie zeitgemäß reformiert werden, haben sie in Zukunft Bestand. Und wenn man sie will. Wir wollen sie. Finanziert aus einem tragfähigen Mix aus Beiträgen, Steuern und individueller Vorsorge. Teilhabe erfordert auch einen gerechten Anteil am wirtschaftlichen Erfolg. Das heißt auch: Verantwortung der Unternehmen für ihre Mitarbeiter und für ihre Standorte. Freundinnen und Freunde, Teilhabe erfordert Teilnahme, Engagement in der Gesellschaft und für die Demokratie. Unmittelbar in der Zivilgesellschaft, in Verbänden, Vereinen, Organisationen, Initiativen. Oder in Kirchen, in Gewerkschaften, in Parteien. Das Ehrenamt ist wichtig: Wir unterstützen ehrenamtliche Arbeit, nutzen sie aber nicht als Ausrede für eine Politik, die sich selbst aus der Verantwortung stiehlt. Wir ermutigen alle, im Großen wie im Kleinen, gesellschaftliche Aufgaben zu übernehmen. Die – beispielhaft – in den Sportvereinen dafür sorgen, dass Kinder und Jugendliche Sport treiben können, leisten wichtige Arbeit. Wir sind ihnen verbunden. Wir wollen einen starken Parlamentarismus und ein klares und selbstbewusstes Bekenntnis zu starken politischen Parteien. Parteien sind fehlbar, das wissen wir nur zu gut. Aber sie sind auch überlebenswichtig für unsere Demokratie und mit Recht stolz auf ihren Beitrag zu deren Gelingen. Wir wollen als Ergänzung der repräsentativen, parlamentarischen Demokratie mehr direkte Mitbestimmungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger. Auf staatlicher Ebene wollen wir Teilhabe und Teilnahme durch die Einführung von Volksinitiativen, -begehren und -entscheiden und Referenden auf Bundesebene fördern. Die aktive Teilnahme vieler an unserer sozialen Demokratie in vielerlei Form ist ein großes Gut. Dieses menschliche Engagement quer durch alle Generationen ist der Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält und soziale Demokratie erst möglich macht. Teilhabe und Teilnahme sind ihr Fundament. Mitbestimmung der Arbeitnehmer ist ein Stück Demokratie. Keiner Herr, keiner Knecht. Unser Stück Wirtschaftsdemokratie soll nicht in der Globalisierung untergehen. Sie hilft schwierige Umstrukturierungen zu bewältigen und trägt zum inneren und sozialen Frieden bei. Unternehmerverbände und Gewerkschaften sollen Interessen vertreten und faire und vernünftige Ergebnisse erzielen und umsetzen können. Demokratie ist an den Werkstoren nicht zu Ende. 6. Demokratie braucht Integration Alle gehören zu der gleichen Gesellschaft. Mit gleichen Rechten und mit gleichen Pflichten. Deutsche und Migranten mit ausländischem Pass, die dauerhaft in Deutschland leben. Der Vorsatz ist unverbrüchlich, aber leicht ist Integration nicht. Nicht für die Deutschen, nicht für die Migranten. Das ist ein Prüfstein für unsere Demokratie. Guter Wille bei allen ist erforderlich, klare Regeln sind es auch. Über das wohlwollende menschliche Miteinander hinaus sind es das Grundgesetz und die aus ihm abgeleiteten Gesetze, die das Gelingen von Integration ermöglichen. Unterschiedliche Kulturen und Religionen und Traditionen haben in unserem Lande ihren Platz, solange sie unsere gemeinsamen Regeln, unsere Gesetze akzeptieren und einhalten. Anders: Wer gegen Gesetze verstößt, kann sich nicht darauf berufen, dass seine Religion ihm dies erlaubt. Wo Asyl nötig ist, muss es möglich sein. Die Möglichkeiten der Zuwanderung allgemein sind eng begrenzt. Die Arbeit, die es in Deutschland gibt, muss zuerst von denen getan werden, die legal in Deutschland sind. Integration muss einen Schwerpunkt haben bei den Kleinen. Sie müssen die deutsche Sprache können, wenn sie mit 6 Jahren in die deutsche Schule kommen. Vorprüfung und Sprachkurse zu diesem Zweck sind wirkungsvoll. Von denjenigen Migranten, die dauerhaft in unserem Land leben wollen, erwarten wir die Bereitschaft zur Einbürgerung. Mit der Einbürgerung erhalten sie alle staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten und sie ermöglicht ihnen bessere Lebenschancen in unserem Land. Sie ermöglicht auch volle Teilhabe und Teilnahme. 7. Demokratie braucht Wehrhaftigkeit Genossinnen und Genossen, Demokratie basiert auf Toleranz. Gerade auch Toleranz gegenüber Andersdenkenden. Aber Intoleranz dürfen Demokraten nicht tolerieren. Demokraten müssen gegen die Feinde der Demokratie zusammenstehen. Demokratie muss sich verteidigen können und muss dies auch tun. Auch vorbeugend. Im Grundgesetz wird eine wehrhafte Demokratie beschrieben. Damit zieht die Bundesrepublik die Lehren aus Weimar. Die jüngsten Entscheidungen zum Versammlungsrecht und zum Strafrecht, die Demonstrationen von Neo-Nazis oder anderen Extremisten verhindern oder erschweren, zeigen die Bereitschaft, unsere Demokratie zu verteidigen. Die braune Ideologie soll nie wieder eine Chance haben in Deutschland. Wer die Demokratie ablehnt, der muss mit unserem Widerstand rechnen – gesellschaftlich, politisch und juristisch. Freundinnen und Freunde, das Soziale und das Demokratische, das ist unsere Sache, - soziale Demokratie. Demokratie ist ein Wagnis. Ein Wagnis, das gelingen muss, wenn Menschen menschlich miteinander leben wollen. Das Faszinierende ist, dass Demokratie ihre eigenen Grundlagen zu schaffen und auszubauen vermag, wenn sie aktiv gelebt wird. Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind in der sozialen Demokratie Voraussetzung und Ziel zugleich. Demokratie lohnt sich.

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